Zeit lassen

Von Pfarrer Rolf Stahl
Superintendent, Evangelischer Kirchenkreis Koblenz

Viele Jahre ist er bei uns. Zweimal ist er mit umgezogen. Er steht in einer Ecke zwischen zwei Fenstern. Dort schien es ihm bisher gefallen zu haben. Ich meine unseren „Baumfreund“. So lässt sich sein botanischer Name übersetzen. Ein Philodendron ist eine immergrüne, krautige Pflanze. In freier Natur klettert sie mit ihren Luftwurzeln an anderen Bäumen hoch, ohne ihnen zu schaden. Daher der Name. Unser Baumfreund kletterte mit seinen Luftwurzeln an einer Metallstange immer höher hinauf. Seine großen gefiederten Blätter ragten in den Raum und füllten die leere Ecke mit ihrem Grün. Er gehörte einfach dazu. Wir schenkten ihm lange keine besondere Aufmerksamkeit. Dann fielen uns die ersten gelben und vertrockneten Blätter auf. Es wurden immer mehr. Hatten wir zu wenig gegossen oder zu viel? Hatten wir vergessen ihn zu düngen? Wir topften ihn um in neue Erde. Die Blätter welkten weiter. Dann war auch das letzte vertrocknet. Zurück blieben nackte Stängel und trockene Luftwurzeln. Das wird nichts mehr, dachten wir. Wegwerfen wollten wir das blattlose Gerippe aber auch noch nicht. So blieb es die folgenden Monate stehen. Mancher Besuch wunderte sich vielleicht darüber. Eine Freundin meinte, dass er wieder kommt. Es braucht nur Geduld. Sie behielt Recht. Lange danach bemerkten wir ein grünes Blättchen. Vielleicht war es nur ein letztes Aufbäumen. Inzwischen sind weitere dazugekommen. Noch ist das Grün lückenhaft. Wir freuen uns, dass er wieder da ist. Er hat uns etwas beigebracht. Lasst mehr Zeit! Gebt auch dem scheinbar Aussichtslosen eine Chance! Dieser Rat beschränkt sich nicht nur auf Zimmerpflanzen.

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