Was wir vergessen haben – oder: Die vergessene Straße

Letzter Sonntag nach Ephiphanias

Von Pfarrerin Marina Brilmayer
Ev. Kirchengemeinde Koblenz-Mitte

Heute gehe ich nachdenklich durch die Straßen der Koblenzer Altstadt. Es ist ein wichtiger Tag und ich bin auf dem Weg zur Görgenstraße. Heute, am 27. Januar, ist der Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus. 79 Jahre ist es her, dass das Vernichtungslager Ausschwitz befreit wurde. Es gibt nicht mehr Viele, die ganz bewusst die Zeit damals erlebt haben. Was alles haben nachfolgende Generationen bereits vergessen?

An der Grünfläche steht schon der Oberbürgermeister. Heute um 11 Uhr wird hier eine Erinnerungstafel eingeweiht für die ehemalige Balduinstraße, die lange Zeit den Namen „Kleine Judengasse“ trug. Sie war die Wohn- und Geschäftsstraße von jüdischen Einwohnern und eine Verbindung zur Casinostraße. Früher gab es hier sogar auch eine Synagoge und eine Schule.

Wie ich heute so vor dem Schängel Center stehe, stelle ich mir vor, wie das Leben an dieser Stelle wohl vor hundert oder zweihundert Jahren ausgesehen hat? Wie die Leute eingekauft und sich besucht haben, wie Kinder dort die hebräische Bibel kennenlernten und jüdischer Gesang aus der Synagoge drang – jüdisches Leben mitten in der Koblenzer Altstadt. Seit den 70er Jahren gibt es die Balduinstraße nicht mehr. Wir haben sie vergessen, sie ist aus dem Stadtbild und auch aus der Erinnerung verschwunden.

Das ändert sich jetzt: Neben der bereits verlegten fünf Stolpersteinen wird mit der Erinnerungstafel die vergessene Straße wieder für die Öffentlichkeit sichtbar gemacht und dem Vergessen entgegengewirkt – und das in einer Zeit, in der Rechtsextremismus und Antisemitismus wieder sichtbar für alle zutage treten. Wie die Hundertausenden, die am letzten Wochenende gegen Hass jeglicher Art auf die Straßen gingen, kann auch diese kleine Tafel ein sichtbares Zeichen sein: „Wir wollen nicht vergessen!“

Vielleicht lesen Sie das hier noch rechtzeitig: Heute, am Samstag, 27. Januar 2024 um 11.00 Uhr an der Grünfläche Görgenstrasse 11.r auch von der Politik ein anderes Umgehen mit ihnen zu fordern, - das sind wir uns als Kirchen schon wegen unserer eigenen Geschichte schuldig.

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