Vor dem Fenster

Von Pfarrerin Margit Büttner Evangelisches Erwachsenenbildungswerk Rheinland-Süd e.V., Außenstelle Koblenz

Von Pfarrerin Margit Büttner
Evangelisches Erwachsenenbildungswerk Rheinland-Süd e.V., Außenstelle Koblenz

Vor meinem Fenster treibt der Wind die Blätter einer großen Kastanie her. Es ist Herbst. Von meinem Bürostuhl aus kann ich es sehen, genau wie jede andere Jahreszeit, die der Baum, der wahrscheinlich doppelt so alt ist wie ich selbst, in seinen wechselnden Kleidern anzeigt.

An manchen Tagen habe ich keinen Blick dafür, bin viel zu sehr mit Bürokratie beschäftigt, schreibe Protokolle, sichte Unterlagen, bereite mich auf Termine vor. Schließlich werde ich nicht dafür bezahlt, aus dem Fenster zu gucken.

Doch dann fällt mein Blick auf den Baum, und er erinnert mich an das Werden und Vergehen, an Blüte und Frucht, an Standfestigkeit und Flexibilität. Und für einen Moment werde ich still, gehe in mich und danke Gott für mein Leben.

Bäume waren und sind schon immer Symbole menschlichen Lebens. Dabei sind nicht nur die biologischen Vorgänge der Entstehung, des Wachsens, Blühens, Fruchtbringens und irgendwann des Sterbens den menschlichen Lebensaltern vergleichbar. Bäume haben wie wir Bedürfnisse an den Standort, die Umgebung, an Licht und Nahrung. Sie sind bis zu einem gewissen Grad anpassungsfähig. Es gibt unter ihnen Einzelgänger, die viel Raum für sich benötigen, und gesellige Typen, die es alleine nicht gut aushalten. Manche senken ihre Wurzeln tief in die Erde, andere breiten sich in der Fläche aus, manche strecken ihre Wurzeln gar in die Luft.

Woraus beziehst du deine Lebenskraft? fragt mich die alte Kastanie heute. Sie sieht aus, als werde sie sich bald zur Ruhe begeben, in den Winterschlaf, wo sie blattlos dasteht und wie tot wirkt. Aber in ihr werden die Säfte weiterströmen, ein ruhiger langsamer Strom, der sie vorbereitet auf ein weiteres Jahr, eine weitere Blüte, neues Fruchtbringen. Irgendwann wird auch dieser Strom zu einem Ende kommen. Aber, denke ich, noch ist es nicht so weit. Und bitte Gott, mir die Kastanie vor dem Fenster noch ein paar Jahre zu erhalten.

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