Vom Heilwerden - Die Geschichte eines Rockzipfels

20. Sonntag nach Trinitatis

Von Pfarrerin Marina Brilmayer
Evangelische Kirchengemeinde Koblenz-Mitte

Letztens habe ich einen alten Rock zerschnitten, den ich gerne für eine Predigt verwenden wollte. In der Bibel gibt es nämlich die Geschichte von einer Frau, die schon seit 12 Jahren krank ist und Heilung bei Jesus sucht. An dem Tag ist er aber von einer Menschenmenge umringt und sie kann gar nicht mit ihm sprechen. Die Frau weiß sich nicht anders zu helfen – sie drängt sich durch die Masse durch und schafft es, Jesus am untersten Zipfel seines Gewandes, am „Rockzipfel“ zu berühren. In dem Moment, in dem sie den Rockzipfel berührt, wird sie gesund.

„Ach, so einen Rockzipfel hätte ich auch gern!“, sagen viele Bewohner der Seniorenheime, die ich mit der Predigt besuche. Wir erinnern uns daran, an welchen Rockzipfeln wir früher selbst gehangen haben – bei der Mutter, bei der Großmutter, und was dieser Rockzipfel alles bedeutet hat: Die Sicherheit, die Wärme, der Halt in der Welt vor größeren (und kleineren) Herausforderungen des Lebens. Und wie es dann auch Zeit wurde, irgendwann loszulassen, denn sonst heißt es ja: „Der hängt ja immer noch am Rockzipfel!“.

Die Geschichte in der Bibel geht noch weiter: Jesus spürt, dass eine Kraft von ihm ausgegangen ist, die Frau gibt sich zu erkennen und erklärt alles. Er sagt zu ihr: „Dein Glaube hat dich geheilt“ (Markus 5,34) – ja, aber dieser Glaube braucht auch einen Rockzipfel, etwas, woran man sich festhalten kann.

Mit den Gottesdienstbesuchern spreche ich darüber, wie das ist, wenn man weiß, dass man nicht mehr gesund wird. „Das ist schwer“, sagt die eine. Ein anderer sagt: „Ich guck aus dem Fenster, dann geht’s mir gut.“ Eine andere meint, dass sie gerne an ihre Lieblingslieder denkt. Am Ende des Gottesdienstes schenke ich allen ein kleines Stück Stoff – denn ich glaube, dass wir alle an Gottes unzertrennbaren Rockzipfel hängen, dass Gott uns niemals alleine lässt, und dass wir eines Tages, irgendwann, alle heil werden.

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