Vollkommen unvollkommen

Anne Peters-Rahn

Von Anne Peters-Rahn
Evangelische Militärdekanin, Zentrum Innere Führung Koblenz

Besuch im Krankenhaus: Hinter vielen Türen ahne ich Menschen mit Kummer, Sorgen, Ängsten. Klare oder unklare Diagnosen werfen Schatten weit über das Bett der Patientinnen und Patienten hinaus. Spätestens hier werde ich wieder daran erinnert, dass wir alle „Schwachstellen“ haben. Mittels Medikamenten, Operationen und künstlichen Gelenken lassen sich allerdings viele Leiden lindern, verhindern oder ausgleichen. „Make the most of yourself“ lautet die Parole von Erfolgsuchenden heute. Der schweiß- und ehrenvolle Weg zur Vervollkommnung heißt Selbstoptimierung. Apps auf dem Smartphone und Sensoren am eigenen Körper erlauben die Kontrolle aller Lebensbereiche zu jedem Zeitpunkt. Wie viele Schritte bin ich gegangen, wie viele Kalorien habe ich zu mir genommen, wie viele Stunden geschlafen? Doch stellen wir uns den Tatsachen: Wir sind begrenzt. Unser Körper, unser Verstand, unser Geist und unser Gedächtnis haben Grenzen. Wir treffen Entscheidungen, die andere Optionen in der Zukunft ausschließen. Außerdem gehören Brüche zu unserem Leben, Auf- und Abbrüche, Scheitern. Zurück zum Krankenbett. Wir sind dankbar für die Fortschritte im Gesundheitswesen. Dennoch! Der große evangelische Theologe Karl Barth war davon überzeugt, dass Gesundsein nicht vom Funktionieren aller Organe und der eigenen Leistungsfähigkeit  abhängt, sondern die „Kraft zum Menschsein“ sei.Demnach können auch Menschen mit  „Fehlern“, mit Handicaps und chronischen Erkrankungen gesund sein. Würde besitzen wir nicht, weil wir fehlerlos oder vollkommen wären. Im Gegenteil. Unsere Unvollkommenheit macht uns neugierig und kreativ und ist Schlüssel zu Mitgefühl und Anteilnahme. Die Ergänzung, auf die ich angewiesen bin, erfahre ich durch andere und Gott.

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