Nicht säen und doch ernten
Von Pfarrerin Anne Peters-Rahn
Evangelische Kirchengemeinde Koblenz-Mitte
Der Holunder war in diesem Jahr wieder schon im August reif. Ich erinnere mich daran, ihn früher erst im September geerntet zu haben. Nun stehen Saft und Gelee im Regal. Ihr Anblick macht mir Freude. Ich mag Holunder. Ein Strauch, der kaum Pflege benötigt, völlig unkapriziös ist, und der sowohl an sonnigen als auch schattigeren Orten auf jedem Boden gedeiht. Bescheidene Maße und reiche Gaben zeichnen ihn aus: Die Blütendolden im Mai und die blauschwarzen Beeren im Spätsommer. Auch Vögeln und Insekten dient der Strauch als Nahrungsquelle und Schutz. In jedem Jahr staune ich neu, wie in der Küche aus diesen zarten Blüten ein Sirup mit intensivem Aroma entsteht und über die Ausbeute an Saft aus den reifen Beeren einige Monate später. Sirup und Saft sind ein unverdientes Geschenk, denn ich habe die Sträucher nicht gepflanzt, von denen ich ernte. Vögel sorgen durch den Verzehr der Beeren für ihre Verbreitung. Noch anderes reift in diesen Wochen und will geerntet werden: Äpfel, Birnen, Pflaumen. Das lädt dazu ein, auch andere unverdiente Geschenke wahrzunehmen. Wo komme ich in den Genuss von Dingen, die andere angelegt, andere vorbereitet haben? Wo stehe ich auf den Schultern früherer Generationen? Wo ernte ich, ohne gesät zu haben? Und wo können andere ernten, weil ich Vorsorge getroffen habe? Die Geschichte von der Speisung der Fünftausend hat hier ihren Platz. Sie zeichnet ein Bild von Gemeinschaft und Mit- und Füreinander und einer daraus resultierenden Fülle, die für weit mehr als die Anwesenden reicht. Beides, das Bild von Gemeinschaft wie das der Überfülle, kann uns guttun im September des Jahres 2022.