Nachgedacht: Denk-Zettel
Von Schulpfarrerin Ruth Stein
Der Schock dieser Europa-Wahl sitzt tief, seitdem überbieten sich Experten, Journalisten und natürlich die Politiker selbst in der Analyse der Ergebnisse. Sicher ist für alle aber eins: diese Wahl war ein Denkzettel! Ein Denkzettel vor allem für die Regierungsparteien.
Den Begriff ´Denkzettel` kennen wir seit dem 16. Jhd. aus der Schule. Dort wurden die schändlichen Vergehen von Schülern auf einem Zettel notiert und dem jeweiligen Schüler an einer Schnur um den Hals gehängt. Wahrscheinlich stand damals auch kaum anderes darauf als es heute der Fall wäre: Unpünktlichkeit, nicht gelernte Vokabeln, freche Bemerkungen usw. Mit diesem Zettel nun musste ein Schüler sich eine gewisse Zeit dem Spott seiner Klassenkameraden aussetzen, genauso wie er natürlich an sein schlechtes Verhalten erinnert wurde.
Interessanterweise benutzt Martin Luther das Wort Denkzettel aber noch in einem anderen Zusammenhang, nämlich als Übersetzung für Gebetsriemen. Die Lederstreifen, die fromme Juden sich zum Gebet um Arm und Kopf wickeln und die jeweils kleine Kästchen mit wichtigen Bibelversen darin tragen. Diese Tefillin übersetzt Luther mit ´Denkzettel` und betont damit auch ihre eigentliche Wortbedeutung, nämlich dass man daran denken, sich etwas merken, einen bestimmten Inhalt nicht vergessen soll. Das ist zuallererst für jeden frommen Juden die tägliche Mahnung, Gott zu lieben und in Seinem Sinn zu handeln. Und indem die Gebetsriemen Kopf, Herz und Hand verbinden, wird der ganzheitliche Ansatz dieser Erinnerung deutlich.
Es wäre schön, wenn Politiker und Politikerinnen in diesem Sinne ihren Denkzettel annehmen und sich nun mit Verstand und Herz daran setzen, Politik zu machen, - gerne auch auf der Grundlage christlicher Werte, wie es einige versprechen.
Denn gemeinsam war allen Denkzetteln seit dem 16. Jhd., dass sie immer nur als Mahnung dienten, dem Betroffenen nicht wirklichen Schaden zufügen sollten. Und das wollen wir auch für unsere Demokratie hoffen.