"Ich kenne dich nicht…

Von Pfarrer Gerd Götz
Evangelische Kirchengemeinde Vallendar

…aber ich rasiere dich trotzdem". Zugegebenermaßen eine eher männliche Erfahrung, aber von der Situation her sicherlich übertragbar. Der erste Blick in den Spiegel am frühen Morgen kann schon fremd vorkommen. Da tritt uns die ungeschminkte Wahrheit entgegen. Und die zu ertragen, fällt oft schwer. Aber warum eigentlich? Ist das nicht das ehrlichste Bild von uns? So wie wir sind? Warum können wir das unter Umständen nur schwer ertragen?

Manche Menschen sagen, ungeschminkt gingen sie nicht raus. Was würde passieren, wenn?
Ich denke, es hängt an der Vorstellung, dass wir anderen adrett, gepflegt, schön oder gar jugendlich gegenübertreten müssten. Oder daran, dass unser "Ich" manchmal geschützt und verborgen werden muss. Das kann sehr oft sehr hilfreich sein. Und das ist auch in Ordnung. Was ich bedenkenswert finde, ist die Frage, wer eigentlich das ungeschützte "Ich" sehen oder kennen darf? Ein "Du" zu finden, das dieses "Ich" annimmt, es vielleicht sogar ganz so akzeptieren oder lieben kann, wie es ist. Vor lauter Schutz kann es passieren, dass man sich selbst aus dem liebvollen Blick verliert. Dann greift die Spiegelgeschichte von oben. Kann ich mir selbst in die Augen schauen? Bin ich nicht die/der erste, die/der hier warme, liebvolle Gefühle entwickeln dürfte?

Jesus wird einmal nach dem höchsten Gebot gefragt. Unter anderem kommt da das Gebot der Nächstenliebe zur Sprache. Leider oft falsch verstanden. Denn es heißt: Liebe deinen Nächsten, wie dich selbst. Die Liebe zu mir, zu meinem "Ich" ist die gute Grundlage für die Zuwendung zu anderen. Ich darf geliebt sein. Ich darf einfach und schön sein. Einen Grund dafür kann man darin finden, dass Gott uns liebt. Er sieht uns. Auch ungeschminkt. Aber immer mit gütigem Blick. Auf jeden und jede von uns. Ich hoffe, dass Ihnen dieser ehrliche Blick keine Angst macht, sondern eher ein warmes Lächeln aufs Gesicht zaubert, wenn Sie das nächste Mal am Morgen in den Spiegel schauen.